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Je geringer das Wissen, desto länger die Erklärung.
Das Buch Azhar der Bene Gesserit
(Renegatenausgabe)
Mit einem kollektiven Gedächtnis, das bis in die dunkelsten Schatten der Geschichte zurückreichte, benötigte die uralte Mutter Oberin Harishka keinen Rat von ihren Schwestern. Doch Erinnerungen aus tiefer Vergangenheit waren nicht immer auf die zukünftigen oder gegenwärtigen Verstrickungen der imperialen Politik anzuwenden.
Harishka hielt sich in einem privaten Versammlungsraum auf, dessen Wände mit Stuck verziert waren. Ihre vertrauenswürdigsten Beraterinnen, die im Verständnis subtilster Konsequenzen geschult waren, bewegten sich mit raschelnden Gewändern durch den Raum. Herzog Letos überraschende Anfrage hatte sie aufgescheucht und zu diesem unerwarteten Treffen veranlasst.
Akoluthen brachten verschiedene Säfte, Tee und Gewürzkaffee. Die Schwestern tranken und grübelten, doch es blieb seltsam still. Es gab keine beiläufigen Plaudereien. Derartige Angelegenheiten erforderten ernsthafte Kontemplation.
Harishka glitt zu einer rohen Steinbank und setzte sich. Der kalte und harte Sitz war kein Thron, wie er für einen mächtigen Entscheidungsträger üblich war, aber die Bene Gesserit waren es gewohnt, ohne Bequemlichkeiten zu leben. Ihr Geist war scharf, ihr Gedächtnis lebhaft. Mehr brauchte eine Mutter Oberin nicht.
Die versammelten Schwestern nahmen mit raschelnden Gewändern Platz, als würden sich schwarze Raben niederlassen. Das graue, gedämpfte Sonnenlicht drang durch die Prismenfenster im Dach und ließ die Augen wie Kristallsplitter glimmen, als sich alle Blicke Harishka zuwandten. Es war an der Zeit, dass die Mutter Oberin sprach.
»Wir alle haben uns erlaubt, diese Angelegenheit jahrelang zu ignorieren, und nun sind wir plötzlich gezwungen, eine Entscheidung zu treffen.« Sie erzählte vom Nachrichtenzylinder, der vor kurzem von Caladan eingetroffen war.
»Wir hätten Leto Atreides niemals sagen dürfen, dass das Nicht-Schiff existiert«, sagte die mürrische Ehrwürdige Mutter Lanali, die den Kartenraum und das geographische Archiv der Mütterschule verwaltete.
»Es war notwendig«, erwiderte Harishka. »Er hätte Jessica niemals angenommen, wenn wir ihm keinen verlockenden Köder präsentiert hätten. Immerhin hat der Herzog diese Information nicht missbraucht.«
»Aber er tut es jetzt«, sagte die Ehrwürdige Mutter Thora, die sich um die Obstgärten kümmerte und eine Expertin für Kryptographie war. Zu Beginn ihrer Karriere hatte sie eine Technik entwickelt, wie sich Botschaften auf den Blättern von Pflanzen verschlüsseln ließen.
Harishka war anderer Ansicht. »Der Herzog hätte die Information bei vielen Gelegenheiten zu seinen Gunsten nutzen können, und auch jetzt hat er vertrauliche Kanäle gewählt und darauf geachtet, dass unser Geheimnis gewahrt bleibt. Bislang war unser Vertrauen in ihn gerechtfertigt. Und ich darf euch vielleicht daran erinnern, dass Jessica mit seinem Kind schwanger ist, wie wir gehofft hatten.«
»Aber warum hat sie so lange gebraucht, um schwanger zu werden?«, fragte eine andere Frau. »Es hätte schon viel früher passieren können.«
Harishka wich ihrem Blick aus. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir wollen uns mit den aktuellen Problemen befassen.«
»Ich pflichte Ihnen bei«, sagte die Ehrwürdige Mutter Cienna, deren herzförmiges Gesicht immer noch eine Aura unschuldiger Schönheit besaß, mit der sie in ihren jüngeren Jahren viele Männer getäuscht hatte. »Wenn jemand der Macht würdig ist, unsichtbare Kampfschiffe bauen zu können, dann Herzog Atreides. Wie sein Vater und Großvater ist er ein Mann mit tadellosen Referenzen, ein Mann der Ehre.«
Lanali stieß ungläubig den Atem aus. »Haben Sie schon vergessen, was er auf Beakkal angerichtet hat? Er hat das Kriegsdenkmal vollständig vernichtet!«
»Sein Kriegsdenkmal«, entgegnete Cienna. »Außerdem wurde er provoziert.«
»Selbst wenn Herzog Leto vertrauenswürdig ist – was ist mit dem künftigen Herzog Atreides?«, sagte Lanali vorsichtig. »Dieser Punkt ist ein bedeutender unbekannter Faktor, und unbekannte Faktoren sind gefährlich.«
»Aber es gibt auch bedeutende bekannte Faktoren«, sagte Cienna. »Sie machen sich zu viele Sorgen.«
Das jüngste Mitglied der Gruppe, die schlanke Schwester Cristane, meldete sich zu Wort. »Diese Entscheidung hat überhaupt nichts mit dem moralischen Charakter der Atreides zu tun. Eine solche Waffe, auch wenn sie nur zur passiven Verteidigung eingesetzt würde, hätte enorme Auswirkungen auf die künftige Kriegsführung innerhalb des Imperiums. Die Technik der Unsichtbarkeit verschafft jedem Haus, das sie besitzt, einen gewaltigen taktischen Vorteil. Auch wenn Sie Sympathien für ihn hegen, Schwester Cienna, ist Leto Atreides doch nur eine kleine Schachfigur in unserem großen Plan, genauso wie es Baron Harkonnen war.«
»Die Harkonnens haben die schreckliche Waffe entwickelt«, sagte Thora. Sie trank ihren Gewürzkaffee aus und stand auf, um sich neuen zu holen. »Zum Glück haben sie das Geheimnis verloren und waren nicht in der Lage, das Wissen zu rekonstruieren.«
Harishka war aufgefallen, dass die Obstgärtnerin in letzter Zeit immer mehr Melange konsumierte. Bene Gesserit konnten ihre Körperchemie beeinflussen, aber sie wurden streng ermahnt, ihre Lebenserwartung nicht zu sehr zu steigern. Wenn sie ihre Langlebigkeit demonstrierten, konnte die öffentliche Meinung über die Schwesternschaft Schaden nehmen.
Harishka entschied, die Diskussion abzuschließen. Sie hatte genug gehört. »In dieser Sache bleibt uns keine andere Wahl. Wir müssen Letos Forderung ablehnen. Die Ehrwürdige Mutter Mohiam wird unsere Antwort überbringen, wenn sie sich auf den Weg macht, um Jessica nach Kaitain zu begleiten.« Sie hob den Kopf. In ihrem Kopf waren so viele Erinnerungen und fremde Gedanken, dass er schwer auf ihren Schultern lastete.
Thora seufzte und dachte daran, wie lange die Akoluthen daran gearbeitet hatten, das beschädigte Schiff auseinander zu nehmen und zu untersuchen. »Ich weiß ohnehin nicht, wie viel wir Herzog Leto erzählen könnten. Wir könnten ihm das Wrack des Schiffs überlassen, aber nicht einmal wir haben verstanden, wie der Feldgenerator arbeitet.« Sie blickte sich um und nahm einen weiteren Schluck Gewürzkaffee.
Die schwarzhaarige Schwester Cristane meldete sich erneut zu Wort. »Eine solche Waffe könnte katastrophale Auswirkungen auf das Imperium haben. Wie schrecklich sie wären, können wir bestenfalls ahnen, wenn nicht einmal wir wissen, wie sie funktioniert. Wir müssen so viel wie möglich darüber in Erfahrung bringen und das Geheimnis sicher in der Schwesternschaft verwahren.«
Cristane war für Kommandounternehmen ausgebildet worden. Sie sollte gezielte und gewalttätige Aktionen unternehmen, wenn subtilere Methoden versagten. Aufgrund ihrer Jugend hatte Cristane nicht die Geduld einer Ehrwürdigen Mutter, auch wenn Harishka diese Art von Ungestüm gelegentlich sehr nützlich fand.
»Völlig richtig.« Die Mutter Oberin rückte sich auf der harten Steinbank zurecht. »Gewisse Markierungen auf einigen Wrackteilen deuten darauf hin, dass eine Person namens Chobyn damit zu tun hatte. Inzwischen haben wir erfahren, dass ein Erfinder dieses Namens von Richese nach Giedi Primus desertierte, ungefähr zu der Zeit, als die Unsichtbarkeitstechnik entwickelt wurde.«
Thora trank ihre dritte Tasse Gewürzkaffee aus und ignorierte Harishkas strengen Blick. »Die Harkonnens müssen den Mann zu früh aus dem Weg geschafft haben. Andernfalls hätten sie nicht solche Schwierigkeiten, den Unsichtbarkeitsgenerator nachzubauen.«
Harishka verschränkte die Spinnenfinger ihrer Hände im Schoß. »Sinnvollerweise werden wir mit unseren Nachforschungen auf Richese beginnen.«